B. Belge: Klingende Sowjetmoderne

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Titel
Klingende Sowjetmoderne. Eine Musik- und Gesellschaftsgeschichte des Spätsozialismus


Autor(en)
Belge, Boris
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 50
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 60,00
URL
von
Felix Frey

Boris Belges Monografie «Klingende Sowjetmoderne», die als Dissertation an der Universität Tübingen entstanden ist, befasst sich mit der Moskauer Troika. Diese Fremdbezeichnung fasst das lose Netzwerk dreier Komponistinnen und Komponisten im Spätsozialismus zusammen: Edison Denisov (1929), Sofia Gubaidulina (1931) und Alfred Schnittke (*1934) brachen in den Brežnev-Jahren (1964–1982) zum einen mit Konventionen des Sozialistischen Realismus, legten in derselben Periode aber auch den Grundstein für ihre grossen Karrieren.

Das Kerninteresse der Studie besteht darin, nachzuverfolgen, wie sich die Moskauer Troika innerhalb der sowjetischen musikalischen Welt positionierte und in ihr und auf sie wirkte. In sechs Kapiteln geht Belge unterschiedlichen Aspekten des Schaffens der Troika nach. In einem ersten Teil stehen die institutionellen Rahmenbedingungen im Zentrum, innerhalb derer Denisov, Schnittke und Gubaidulina bei ihrer Gratwanderung zwischen Anschlussfähigkeit und Konventionsbruch navigierten. Diese Rahmenbedingungen waren vom sowjetischen Komponistenverband, der Kulturabteilung des Zentralkomitees sowie internationalen Akteuren geprägt.

Folgerichtig macht Belge in einem zweiten Teil die Mitglieder der Troika als handelnde Individuen innerhalb dieses Koordinatensystems greifbar. Er zeigt auf, dass für Komponistinnen und Komponisten in der Brežnev-Ära Freiräume entstanden. Im Gegensatz zu den Vorgängerregimes Stalins und Chruščevs intervenierte die politische Führung der UdSSR unter Brežnev kaum mehr in der musikalischen Welt. Eine fortschreitende «expertokratische Verwaltungspraxis» (S. 30) machte die Aushandlungsprozesse berechenbarer und umriss die Spielräume und Grenzen für musikalisches Schaffen klarer. Bei der Untersuchung dieser Aushandlungsprozesse bleibt die Studie jedoch zu einseitig. Die Leserinnen und Leser erfahren wenig über die Überlegungen, Logiken und Ziele der «anderen Seite», die die musikalische Welt der UdSSR verwaltete: den Komponistenverband und die Kulturabteilung des Zentralkomitees.

Wie sich die aus leichterer Berechenbarkeit entstandenen Entfaltungsmöglichkeiten in den Kompositionen Denisovs, Gubaidulinas und Schnittkes niederschlugen, analysiert Belge im dritten Kapitel. Er zeigt auf, wie sich die Moskauer Troika der Fortführung einer linearen kompositorischen Fortschrittstradition im Sinne der Symphonik verweigerte und die Herausforderungen des Spätsozialismus auf den Notenblättern verhandelte. Während die religiöse Sofia Gubaidulina mit spiritueller Komposition experimentierte, griff Denisov verstärkt auf absurde und surreale Stilelemente zurück. Schnittkes Praxis, aus Kompositionen der Vergangenheit zu zitieren, holte letztere in die Gegenwart und ordnete sie neu an. Der Wolgadeutsche rekonfigurierte das scheinbar monolithische Erbe des russländischen Kanons, was wiederholt zu Konflikten mit Musikkritikerinnen und dem Komponistenverband führte. Damit spiegelte und reproduzierte Schnittke das veränderte Zeitregime der sowjetischen 1970er Jahre, in dem die Vergangenheit als Orientierungsressource marxistischen Fortschrittsnarrativen den Rang ablief.

Von der Komposition auf Papier bis zu deren Erklingen lag jedoch ein weiter Weg. Um ihre Werke auch tatsächlich aufführen zu können, mussten die Komponistinnen und Komponisten der Troika in einem stark von Patronage geprägten Handlungsraum agieren. Beziehungen zu prominenten Instrumentalisten, Journalistinnen und Musikwissenschaftlern im In- und Ausland waren entscheidende Ressourcen, sollte eine Komposition nicht in der Schublade vergilben. Informelle Netzwerke öffneten den zunächst am Rande der offiziellen sowjetischen Musikwelt operierenden Komponistinnen Türen, die ohne sie wohl verschlossen geblieben wären. Insbesondere der Violinist Gidon Kremer und der Dirigent Gennadij Roždestvenskij spielten hierbei eine zentrale Rolle.

In den letzten beiden Kapiteln sprengt die Studie ihren eigenen Rahmen auf produktive Weise in zweierlei Hinsicht: Zum einen verhandelt sie die Beziehungen und Verflechtungen der Moskauer Troika zu Literatur, Filmindustrie und bildender Kunst. Mit diesem Zugang belegt Belge, dass Berechenbarkeit und Expertenherrschaft nicht im gesamten sowjetischen Kulturbetrieb in gleichem Masse Wirkmacht erlangten. So blickten Schriftstellerinnen auch im Spätsozialismus neidisch auf die deutlich grössere Autonomie der sowjetischen Komponisten. Eine zweite Perspektivenerweiterung erfolgt auf der zeitlichen Ebene: In seinem abschliessenden Kapitel analysiert Belge das Wirken der Moskauer Troika, nachdem das zuletzt primär auf Stabilität bedachte Verwaltungssystem der UdSSR in den 1980er Jahren an seinen eigenen Logiken gescheitert war. Er zeigt auf, wie Globalisierung und Musealisierung die Werke Denisovs, Gubaidulinas und Schnittkes nicht konservierten, sondern transformierten und neuen Deutungen zuführten.

Mit seiner Studie leistet Belge einen wichtigen Beitrag zur Auflösung zweier Dichotomien, welche die historische Analyse der sowjetischen Geschichte auch jenseits musikhistorischer Untersuchungsgegenstände prägen. Erstens ist dies die kulturhistorischen Untersuchungen oft zugrundeliegende Trennung von sogenannter «Populär»- und «Hochkultur» entlang der Zuschreibungen «subversiv» und «offiziell». «Populärkultur» ist auch im sowjetischen Kontext nicht per Definition subversiv; genauso wenig sind Werke der «Hochkultur» stets Ausdruck einer durchgeplanten, offiziellen Kulturpolitik. Von grossem Wert für die historische Forschung ist zweitens eine weitere Kernaussage: Die Studie zeigt auf, dass auch die Dichotomie zwischen Dissidenz und Regimetreue infrage zu stellen ist. Denisov, Gubaidulina und Schnittke verhielten sich weder dissidentisch noch stramm linientreu zur KPdSU. Vielmehr belegt ihr Beispiel, dass der sowjetische Spätsozialismus beschränkte Spielräume bot, in denen ein Wirken an der Schnittstelle von Widerspruch und Partizipation möglich war. Nicht zuletzt deshalb ist «Klingende Sowjetmoderne» eine Studie, die weit über die Musikgeschichte hinaus von hoher Relevanz ist. Boris Belge macht Spätsozialismus-Forschenden ein attraktives Orientierungsangebot, wie die Widersprüche und Verschiebungen dieser Epoche zu fassen und zu deuten sind.

Zitierweise:
Felix Frey: Boris Belge: Klingende Sowjetmoderne. Eine Musik- und Gesellschaftsgeschichte des Spätsozialismus, Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 354-356.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 354-356.

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